who cares

- Alice auf der Nature One

Author: Wolfgang Sterneck
Date: Aug 8, 2003
Views: 3027

- Wegwerfgesellschaft
- "Wer hat Euch beauftragt?"
- –ber allem schwebt der Jaegermeister
- Wir muessten eigentlich dankbar sein
- Alles so geil hier
- 3 Euro um rauszukommen
- Sauf-Techno
- "Best Event 2002"


Die "Nature One" war kaum zu ueberbieten - hemmungsloser Kommerz auf der
einen Seite und ein Publikum auf der anderen, das passiv und matt alles
konsumiert .... In meiner nun doch schon laengeren Party- und
Festival-Laufbahn einer der absoluten Tiefpunkte ...


WEGWERFGESELLSCHAFT

Bei der Ankunft mit unserem Alice-Bus die gewohnten Probleme mit den
Securities, die pflichtbewusst ihre Macht demonstrieren muessen und sich auch nicht dafuer interessieren, dass wir hier eigemntlich arbeiten... Der
Campingplatz kostet den normalen Festivalbesucher nach den 55 Eu
Eintritt noch mal extra 11 Eu - Es sind nicht die letzten Zusatzkosten ...Dann
endlich auf dem Campingplatz neben einer kleinen Buehne unser
Standplatz. Ein abschreckender Anblick: eine mit Muell uebersaete Wiese. Muelleimer sind nicht
vorhanden - und der Plastic-Raver von heute braucht ohnehin keinen ...
Wegwerfgesellschaft ... "Nature One" - welch Hohn ... - Who cares?


"WER HAT EUCH BEAUFTRAGT?"

Zwischen Imbissbuden und einer kleinen Buehne bauen wir unseren Stand auf (nachdem wir einen halbwegs muellfreien Platz geschaffen haben) ...
Gleich die Frage, die uns in letzter Zeit am Haeufigsten gestellt wird: "Warum
macht ihr das?" bzw. "Wer hat Euch beauftragt?" ... Klar, die Frage ist
verstaendlich, was jedoch bezeichnend "f*r die heutige Zeit" ist, sind die Reaktionen ... Ein verstaendnisloser Blick, wenn wir antworten, dass uns niemand beauftragt hat, dass wir dies aus einem eigenen Antrieb machen
...
Wenn ich dann erwaehne, dass wir von der Stadt Frankfurt unterstuetzt
werden, folgt ein unausgesprochenes "Also doch" - Doch im Anschlu* voelliges
Unverstaendnis, wenn ich erklaere, dass ich dies aus bestimmten Idealen
heraus jahrelange gemacht habe ohne eine Pfennig dafuer zu bekommen, im Grunde sogar
daraufgezahlt habe ... In einer Zeit in der es um "Ich-AGs" geht, in der in
der Werbung Sprueche wie "Geiz ist Geil" oder "Essen f*rs Ich" zur
Normalitaet geworden sind, wird ein Idealismus wie ihn Alice weiterhin verkoerpert geradezu als weltfremd wahrgenommen ... Who cares?


UEBER ALLEM SCHWEBT DER JAEGERMEISTER

Doch ich will nicht zu zynisch sein - Die Zusammenarbeit mit Eve&Rave
und Party-Pack verlief gut und locker, auch gingen an unserem Stand mehr
Flyer raus als in den letzten Monaten zusammen ...

Irgendwann steigt eine riesige aufblasbare Jaegermeister-Flasche ueber demGelaende auf ... Ein surreales Bild, fast psychedelisch ... und gleichzeitig ein genialer PR-Gag ... und ebenso symbolhaft ... der naive Traum von der massenhaften Bewusstseinsentwicklung durch LSD ist laengst genauso ausgetraeumt wie die Illusion durch Ecstasy die Gesellschaft "peacig" zu veraendern - Der Alk triumphiert wieder, und wer sich nicht mit dem schnoeden
Bier abgibt, der schuettet all die neuen trendigen Mixgetrânke in sich rein
...

Abends um 20:00 wird dann das eigentliche Festivalgelaende geoeffnet. Ein ehemaliges Militaergelaende - wie praktisch: von Mauern und Stacheldraht
umgeben ... Ich gliedere mich in die Menschenmassen ein, die dorthin
stroemen
... Letztes Jahr waren es 45.000, dieses Jahr sind es offiziell 50.000.
Dann nach 20 Minuten Marsch ein riesiger Pulk von Menschen: Der
Eingangsbereich.


WIR MUESSTEN EIGENTLICH DANKBAR SEIN

Ich kaempfe mich zur Personal-Kasse durch. Dort sollen Extra-Baendchen
fuer uns hinterlegt sein, die das Ganze erleichtern. Der Typ an der Kasse weiss erst von nichts, dann sagt er, er haette Eve&Rave als koordinierender Gruppe nur eine bestimmte Zahl zugesagt und die haette er schon ausgegeben...
Ausserdem muessten wir dankbar sein, dass wir kurzfristig einen Standplatz
bekommen haetten, ohne dafuer zahlen zu muessen ... Es folgt zum zigsten Mal eine Diskussion mit einem Veranstalter bzw. einem hier eigentlich fast unbedeutenden Angestellten ueber Verantwortungen eines Veranstalter,
ueber den Umstand, dass eigentlich wir bezahlt werden muessten und nicht umgekehrt etc
... - Who cares ...

Es endet damit, dass ich mich (ohne Baendchen) mit meiner Eintrittskarte, die wir zuvor von Eve&Rave bekommen haben, in eine der Schlangen draenge -
ein Festival f*r zigtausende Menschen und nur ca. zehn Durchgangsbereiche
fuer jeweils eine Person ... Die Endlosschlange ist zwangslaeufig ...
Gedraenge..
vor, zurueck, warten ... und warten ...

Endlich durch - doch dies war erst der Bereich in dem danach geschaut
wird, ob jemand ein Getraenk oder etwas zu essen dabei hat, was
selbstverstaendlich nicht erlaubt ist - Es folgt wieder eine Schlange, diesmal fuer die Ueberpruefung der Eintrittskarte ...

Gerade hinsichtlich des Verbotes von Getraenken bekommen die einleitenden
Saetze aus dem Programmheft nocheinmal eine ganz andere Bedeutung:
"Endlich angekommen im Land Eurer Traeume! Im Land aus Licht und Sound, wo alles Andere draussen bleibt und nur Eure Party zaehlt!"


ALLES SO GEIL HIER

Endlich drinnen - "das Land der Traeume" sieht aus wie ein Rummelplatz:
Imbissbuden, Bunggespringen und zig Shops ... und endlos Werbung,
Plakate, Logo-Projektionen ... unzaehlige Flyer die den Boden vermuellen ... und Menschenmassen die sich von einem Party-Zelt ins andere Draengen ... und alle
sind ueberfuellt und voellig stickig, aber ... Who cares ...

Etwas trinken? Wieder in eine Schlange fuer die entsprechenden Bons, dann
wieder mit den Bons in eine Schlange fuer das Getraenk ... und wieder
Gedraenge, Warten, Vorkaempfen ...

Ich laufe umher, beobachte, suche, ... finde keinen Platz fuer mich -
selbst der beste DJ kann mich hier nicht mitreissen ... Und ich bin nicht der
Einzige: Tausende laufen ziellos umher ... Wenn ich in ihre Gesichter
blicke, dann sehe ich eine Sehnsucht... die Sehnsucht nach dem Loslassen,
die Sehnsucht nach einer guten Party ... die Sehnsucht nach dem Gefuehl, welches die Werbung im Vorfeld ueber dieses Festival vermittelt...

Sie sind auf der Suche - ohne sich darueber bewusst zu sein. Oder gar zu
wissen, was sie ueberhaupt suchen. - Wollen sie es *berhaupt wissen? In
ihren tiefen Innern sicherlich, aber ... - Die meisten kommen jedes Jahr
wieder
... Who cares?

Vor der Buehne: Der typische Anblick: Wild und hektisch bewegen sie sich
irgendwie im Takt der Musik. Weitgehend starrer Blick, ein
fratzenhaftes Grinsen, krampfhaft Kaugummi kauend.... Alles so geil hier ...


3 EURO UM RAUSZUKOMMEN

Mir reicht es, raus hier - doch wenn es so einfach wâre. Wenn man aus
dem Festival-Bereich zurueck auf das Camping-Feld will und sich die
Moeglichkeit erhalten will nochmals zurueckzukommen, muss man die Eintrittskarte gegen ein
Baendchen tauschen - und dies kostet zusaetzliche 3 Eu ! Jetzt wird klar,
was dieser ominoese Hinweis auf der Eintrittskarte bedeutet "Berechtigung
zum Kauf des Wiedereinla*-Bandes" ...

Nun hatte ich mein Geld im Bus gelassen... Ich wollte hier nichts
ausgeben und hatte naiver Weise auch nicht damit gerechnet, dass ich hier etwas ausgeben muss ! ... Also frage ich die Leute von einem Plattenstand, ob sie
mir 3 Eu fuer einige Stunden leihen koennen, ich hinterlasse ihnen meine
Ringe als Pfand - Nein, machen wir nicht ... Erst die jungen Frauen eines
Schmuckstandes aus Amsterdam druecken mir 3 Euro in die Hand ... mit
denen ich mich dann erneut in eine Schlange draengen muss, um dann endlich dieses Baendchen zu erhalten ...

Ob er gewusst habe, dass es 3 Eu kostet, frage ich in der Schlange
meinen Nachbarn. Ja, das war letztes Jahr auch schon so ... Als ich dann
ausfuehre, wie daneben ich das finde, schaut er mich verbluefft an - Wie kann man sich
auch ueber 3 Eu beschweren, wenn Vaeth, Rush und Tomcraft hier auflegen
... -
Who cares?


SAUF-TECHNO

Puenktlich um 6:00 ist die erste Nacht vorbei - und die Massen werden
wieder auf den Campingplatz getrieben ... Dort setzt neben unserem Bus wieder der
DJ ein (die "Bass-Tours"-Buehne gehoert zu einem Bus-Unternehmen, welches Fahrten zu Techno-Events organisiert) ... Ein DJ der sich groe*te Muehe gibt,
alle Ideale mit denen Techno einmal musikalisch begann auf den Kopf zu
stellen. Es laeuft "TNT" von AC/DC als Sample mit einem Beat unterlegt,
zwischendurch zig techno-mae*ig-aufgemoebelte Achtziger-Jahre-Hits und das Stueck aus der Langnese-TV-Werbung darf auch nicht fehlen... Da steht derRaver druff mit der Bierflasche auf der Tanzflaeche und bekommt
ploetzlich Lust auf Eis - und fragt sich warum...


"BEST EVENT 2002"

Die Nature One hat uebrigens den "Deutschen Dance Award" fuer das "Beste Event 2002" bekommen ... Und der Spiegel schreibt ernsthaft vom "Woodstock der Neuzeit" ... Vielleicht doch nicht so falsch wenn man die vorherrschenden
Werte der jeweiligen Zeit zu Grunde legt und die grossen Festivals als
entsprechenden Ausdruck versteht - man darf nur nicht auf den Gedanken
kommen, die Nature One habe irgendetwas mit Woodstock zu tun...

Die Zusatzveranstaltung "Liberty One" in einigen Wochen wird von den
Veranstaltern woertlich als "Demonstration gegen Drogen" angekuendigt ...
als ob solch ein Festival ohne Drogen funktionieren wuerde - ob illegale
oder legale . Zu den Hauptsponsoren gehoeren selbstverstaendlich die ueblichen Alkohol- und Zigarretten-Konzerne - Klar ist, dass es den Veranstaltern nicht um irgendeine Drogenproblematik geht, sondern schlichtweg um das Bild in der oeffentlichkeit
... - Who cares ... - Who fucking cares?

Dagegen fanden am Freitagabend in Berlin und Frankfurt unter dem Titel
"Rave against Polizeigranaten - Demonstrationen gegen die Polizeigewalt"
Veranstaltungen zu den brutalen Polizeieinsâtzen in Frankreich gegen
Underground-Festivals (Teknivals) statt. Einmal mehr sollen dort die
ueberbliebenen Ansâtze einer alternativen Kultur zerschlagen werden,
waehrend die Nature One praemiert wird ... Das System funktioniert ...


Wolfgang Sterneck
*

no comments yet

Please log in to add a comment.
add Comments!
comments
For loged in users a comment form appears here.